Alle essen, keiner kocht: Sind Rezepte wirklich guter Content?

30. Mai 2017
Kochblogs, Kochshows, Kochbücher und Rezepte allerorten: Ist das hochwertiger Content? Welchen Zweck erfüllen Rezepte in einer Welt der Fertigprodukte? Wir haben uns in der Szene umgehört.

In Zeiten der Informationsüberflutung gilt es, hochwertige, relevante Inhalte anzubieten. Vor allem im Content Marketing sind sich alle einig, dass der gelieferte Content sich nicht nur tunlichst vom gewohnten Werbe-Textgewäsch abheben möge, sondern auch richtig Brauchbares für die Leserinnen und Leser anbieten sollte. Wer praktische Lösungen liefert, wer die Fragen der Kundinnen und Kunden im Content Marketing beantwortet und zielgerichtet informiert, hat die Nase vorn, denn alles andere wird von Google und der Leserschaft beinhart abgestraft. Klingt ganz wunderbar und vor allem wunderbar logisch – bis wir beginnen, ins Detail zu gehen, denn: Was ist denn nun relevanter Content? Und um zum angeschnittenen Thema zurückzukommen: Sind diese zahlreichen Kochtipps und Rezepte wirklich relevanter Content, der genutzt wird?

Es kocht doch eh keiner mehr!?

Unser moderner Lebensstil mit gestiegener Mobilität bringt es mit sich, dass immer weniger Menschen das Mittagessen zu Hause einnehmen. Und wer abends nach einem langen Arbeitstag hungrig ist, lässt sich auch lieber bekochen bzw. schiebt schnell ein Tiefkühlgericht in die Mikrowelle oder ins Backrohr. Zwölf Prozent des Einkommens gibt ein Haushalt fürs Essen aus – und zusätzlich neun Prozent für den Außer-Haus-Konsum, außerdem werde jedes zweite Schnitzel in Österreich im Gasthaus verzehrt, berichtet der Bauernbund. Kochen – und damit ist eben NICHT das Aufwärmen von Fertiggerichten gemeint – wird also mehr und mehr zur Randerscheinung und bestenfalls zum Exklusiv-Event, wenn man Gäste einlädt und in Gesellschaft genießt. Wer gesundheitsbewusst ist und vielleicht auch Kinder versorgt, kommt nicht umhin, sich an den Herd zu stellen, aber wir kennen das: Es gibt meist eine Minimalvariante eines Gerichts und dafür braucht man selten ein Rezept. Wer mit Rezept kocht, muss planen: den Einkauf, die Mengen, vielleicht sogar neue Arbeitsabläufe und Handgriffe bei der Umsetzung oder braucht auch noch neue Küchengerätschaften (weil wie schnitzt man Zucchini-Spaghetti ohne Spezialwerkzeug?). Unterm Strich: Welchen Sinn hat das Rezepte-Bombardement, das zumindest die Autorin immer wieder sogar als belastend empfindet, weil es das schlechte Gewissen schürt (Ich sollte wirklich wiedermal was Neues/Gesünderes/Abwechslungsreicheres/Spannendes … auf den Tisch bringen, habe aber weder Zeit noch Lust, mich lange damit zu beschäftigen)?

Interesse für Ernährung

Wir haben diese Diskrepanz hinterfragt und uns in der Koch- bzw. Content-Szene umgehört. Taliman Sluga, Kurator der Kochbuchmesse in Graz und Organisator des Prix Prato ortet großes Interesse am Thema:

„Es wird immer weniger gekocht, aber es interessieren sich langsam aber doch immer mehr für Essen und Trinken, optimistisch gedacht, für Ernährung.“

Sluga weiter: „Darauf konzentriere ich mich, auch im Rahmen der Kochbuchmesse. Dass ein Gros der Bevölkerung dem nicht folgt bzw. auch nicht folgen kann aus verschiedenen Gründen, auch aus finanziellen, ist eine andere Seite. Auch da versuche ich aufklärerisch zu wirken, auch mit meinen Kinderkochkursen. Die Rezepteflut sehe ich nicht so negativ. Vielmehr sehe ich darin eine Anregung, wenigstens zu bestimmten Anlässen selbst und für Freunde gut (in jeder Hinsicht) zu kochen.“

„Das Thema interessiert und ist somit auch Vehikel für andere Inhalte, die rüberkommen sollen, leider halt oft auch sehr kommerzielle.“

„Das bezieht sich auch auf Koch’shows‘, mit Schwerpunkt Show, mit Kochen haben da die wenigsten wirklich zu tun, es ist lediglich Aufhänger. Aber in allen Bereichen gibt es glücklicherweise auch profunde Formate. Wenn in der heutigen Infoflut also kulinarische Contents den übrigen Inhalt auffetten, finde ich das weniger schlimm als wenn das etwaige bedenkliche politische wären.“

Maria Tutschek-Landauer, Geschäftsführerin und Chefredakteurin von ichkoche.at, kann „keinen Trend erkennen, dass weniger gekocht wird. Unsere Community wächst stetig“.

Feel-well-Content

„Vielfach erzeugt Rezepte-Content einfach eine Stimmung beim Leser“, konstatiert Harald Kopeter, Herausgeber des Magazins VIA, (Print- und Online-)Magazin für Reisen, Genuss, Kultur und Wirtschaft. Die Wenigsten würden das Rezept exakt nachkochen, aber eine gute Stimmung werde beim Betrachten von Bild und Text erzeugt.

Foodblogger Michael Krist (kitchen-news) sieht sehr viel Bewegung in der kulinarischen Szene und streicht auch die emotionale Komponente von diesen Contents hervor. „Im Online-Bereich – also auf Facebook, Twitter, Pinterest etc. – geht es darum, so viel Resonanz wie möglich zu erzeugen. Und das ist nur sinnvoll in Verbindung mit Bildern.“ Hier könne man wunderbar Bezug nehmen auf aktuelle Themen (wie z. B. Muttertag …) und damit gute Gefühle erzeugen:

„Es geht generell um emotionalen Transfer einer Stimmung.“

In Magazinen sehe man das in der Bild-Text-Gewichtung – das Foto füllt eine Seite, das Rezept einen Bruchteil davon. Fachmagazine bedienen eine andere Klientel als Social-Media-Plattformen, doch die Tatsache, dass sich im Bereich der Ernährung trendmäßig so Vieles tut („vegetarisch/vegan boomt nach wie vor, qualitativ hochwertig steht sehr im Vordergrund“), schafft ein breites Publikum. „Rezepte sind auch gute Lückenfüller und lassen sich wunderbar mit Anzeigen kombinieren“, ergänzt der Foodblogger ohne Illusionen:

„Die breite Masse pfeift sich vielleicht Fertigprodukte rein, aber immer mehr Menschen ist der bewusste Konsum wichtig.“

Krist schließt seine Ausführungen kritisch-optimistisch: „Oft ist ein Rezept auch einfach Inspiration. Ich glaube, dass es mehr Leute werden, die kochen. Es hat auch eine schöne soziale Komponente: Gemeinsam kochen und gemeinsam essen. – Obwohl man sich manchmal schon fragen muss, ob das für manche nicht zur Ersatzreligion wird.“

Food-Content wird also so schnell nicht untergehen: Er vermag viel Aufmerksamkeit zu erwecken, inspiriert, bringt (zumindest bei den Meisten) gute Gefühle, erzeugt positive Stimmung mit schönem Bildmaterial, füttert im wahrsten Wortsinne unser wachsendes Interesse an bewusster Ernährung, liegt stark im Trend und ist – vielleicht auch nur für einen kleinen Anteil, der ein Rezept wirklich nachkocht – nützlich.

In diesem Sinne: Kochen Sie wohl!

CLAUDIA RIEF-TAUCHER

 

Magazin VIA – TASTE

kitchen-news

Prix Prato – 2017

ichkoche.at

 

Beitragsbild: Daria-Yakovleva/Pixabay

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