Storytelling: Wer findet die Geschichte?

04. August 2015
Wer mit Storytelling arbeiten will, sollte nicht nur an großartige Geschichten mit imposanten Helden denken. Geschichten erzählen können auch ganz kleine Dinge.

Wer findet die Geschichte, wie findet man sie und worin kann sie bestehen? Das sind die Themen, über die ich in diesem Beitrag nachdenken möchte. Auf das Thema gekommen bzw. den Reiz dazu gesetzt hat vor einiger Zeit Folke Tegetthoff in einem Interview. Er hat etwas geäußert, das ich gleichermaßen richtig wie provokant fand. Nämlich dass es der Dichter – und nicht etwa der Marketingspezialist oder Texter – sei, der das „Sensorium“ habe, um die Geschichten (in einem Unternehmen, in einer Tourismusregion etc.) aufzuspüren. Mir ging diese Behauptung bis heute nicht aus dem Kopf.

Geschichten erzählen: eine Kunst?

Meine allererste Reaktion auf Tegetthoffs Äußerung war das Gefühl, zu einer kleinen Erkenntnis vorgedrungen zu sein. Aha. Aber was wurde mir da auf einmal klar? Dass ich mich eher zu den Dichtern als zu den „Textern“ zähle? Dass es deshalb mit den Marketingleuten oft nicht so einfach ist, weil sie von einer ganz anderen Disziplin kommen? Dass hinter dem technischen Begriff „Storytelling“ und der Methode, die zu beherrschen sich derzeit alle auf die Fahnen heften, eigentlich etwas sehr Künstlerisches, Feinsinniges steht?

Sensorium: check!

Das Interessante war, dass ich Tegetthoff gleichzeitig zustimmen und widersprechen wollte. So wollte ich ihm als erstes entgegnen, dass ja ohnehin in jedem Schreiber/jeder Schreiberin ein kleiner Dichter, eine Dichterin verloren gegangen ist. In jedem – oder sagen wir: vielen – Schreibern ja ohnehin ein kleiner Dichter verborgen sitzt. „Sensorium“: check! Es liegen Welten zwischen großen und kleinen Dichtern, aber es ist doch der gleiche Kern vorhanden. Oder?

Wenn Ihr‘s nicht fühlt, Ihr werdets nicht erjagen.

(aus Goethes Faus, Teil 1)

Ich kenne jedenfalls nicht viele erfolgreiche Menschen in der schreibenden Zunft, die nicht viel lesen würden, die keine Ansprüche ans Schreiben stellten, die sich nicht für Film und Theater interessierten, nicht Literatur oder Sprachen studiert hätten, kurz: von denen man sagen könnte, dass sie keinen Sinn für Geschichten und Erzählkunst hätten. Die Marketingfachleute aber – sie haben ihre Stärken  tatsächlich anderswo.

Nichts zu erzählen?

Einen zweiten Impuls für diesen Blogbeitrag lieferte mir Ines Eschenbacher, eine auf die Tourismusbranche spezialisierte Online Marketerin aus Salzburg im Rahmen der „Online Marketing Impulse“, einer Veranstaltungsreihe in Graz. Eschenbacher erzählt im Rahmen ihres Vortrags, dass sie einem grundsätzlich interessierten Neukunden, einem Hotelbetreiber, der sich mit ihr zu einem Erstgespräch getroffen hat, beim besten Willen nicht dienen konnte und kann. Der Unternehmer hatte ihr im Gespräch nicht den Ansatz einer Geschichte geliefert.

Mann ohne Eigenschaften

Das erste, was ich mir dachte: „Diesen Mann ohne Eigenschaften kann ich mir leibhaftig vorstellen.“ Den Unternehmer, der zwar gehört hat, dass es da ein neues, vielversprechendes Marketinginstrument namens Content Marketing gibt, der bereit ist, zu investieren, der aber keine Ahnung hat, was ihn ausmacht und was an seinem Betrieb besonders ist oder sein könnte.

Klein, aber Geschichte

Es dauerte nicht lange, bis mein Verständnis für die „Kapitulation“ der Salzburger Kollegin angesichts des Geschichten-fernen Kunden von dem Zweifel abgelöst wurde, dass da tatsächlich keine Geschichte zu holen war. Schließlich taugte der willige, aber wortkarge Hotelier der Referentin ja immerhin zu einer kleiner Anekdote. Zur Charakterisierung eines Typus‘. Und außerdem ist es gar nicht selten so, dass man beim Geschichtenerzählen bei den kleinen, fast unspektakulären Dingen anfangen muss …

Storytelling im Kleinen

Ein wunderbares Beispiel für das Geschichten-Erzählen oder Storytelling im Kleinen ist das südenglische Unternehmen Farrow & Ball, ein Hersteller von Farben und Tapeten, die zum größten Teil auf historischen Farbpaletten beruhen. Farrow & Ball hat sich darauf spezialisiert, nahezu exakt identische Farben für die Restaurierung historischer Gebäude herzustellen. Stunden um Stunden hat man in Archiven recherchiert, um die Farbnuancen zu perfektionieren. Das Erstaunliche ist: Nicht nur das Geschäft mit der Restaurierung floriert; die historischen Farben von Farrow & Ball begeistern auch Privatkunden in aller Welt.

 Mole’s Breath: reine Poesie

Das Unternehmen, das 1947 von zwei Chemikern gegründet wurde, erzählt nicht nur die „große“ Geschichte seiner Gründung, sondern auch die kleine Geschichte jeder einzelnen Farbe. Allein schon die Namen der 132 Farben sind Storytelling pur – und Storytelling im Kleinstformat: Smoked Trout, Mole’s Breath, Oxford Stone, Borrowed Light, Middelton Pink. Oder Farbe Nr. 60: Stiffkey Blue. Sie erinnert an die außergewöhnliche Farbe des Schlamms am Strand von Stiffkey in Norfolk. Jeder, der einmal in England war, spricht darauf an.

Every colour has a story

Mit der Online-Marketing-Kampagne „Every colour has a story“ ist es dem Unternehmen gelungen, poetische Produktnamen mit Leben zu erfüllen und ihre Herkunft zu vermitteln. In kurzen Videos mit Stimmungsbildern zeigt das Unternehmen, woher die Inspiration für die jeweilige Farbe kommt. Der Aufbau der Storytelling-Videos ist bei jeder Farbe der gleiche und führt von der Farbinspiration über das Produkt (Farbe, die vom Pinsel fließt) über die Anwendung (Farbe wird gestrichen und trocknet) zum Ergebnis: der Farbe an den Wänden eines modernen Zuhauses. Ja, so grau, blau und pink will ich es auch!

Story vor, noch ein …

Über Storytelling wird viel geschrieben, fundiertes, strukturelles Wissen darüber ist aber selbst in der Branche keine Selbstverständlichkeit. Dabei gilt, dass auch das Geschichten-erzählen nur der beherrscht, der sich ausführlich damit beschäftigt. Sich die Methode schnell anzulesen, ist nicht dasselbe wie sich seit jeher dafür zu interessieren. Wer erst auf den Geschichten-Zug aufspringt, weil es notwendig geworden ist, wird nie so gut erzählen wie jemand, dem dies immer schon nahelag. Nichtsdestotrotz kann man lernen und Sensorien auch entwickeln: Die Geschichten-Erzähler werden mehr und sie werden besser. In vielen Bereichen erlebt das Storytelling gerade eine große Qualitätsoffensive.

Stoff, wo steckst du?

Wer Storytelling für einen Kunden, der wenig Selbstauskunft gibt, beginnen will, beginnt am besten genau bei der Eigenschaft, die als erstes auffällt. Das kann das Schweigen des Hoteliers ebenso sein wie sein beredter Blick.  Vielleicht ist es gerade das Zusammentreffen von beidem. Wichtige Voraussetzungen dafür, die großen, aber auch kleinen Geschichten zu entdecken, sind ein ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen und Assoziationsreichtum; wichtige Bedingungen dafür, an den Stoff dann auch herankommen, sind, neben echtem Interesse, Geschick beim Fragen, Recherchieren, beim Aufbau eines Gesprächs. Kurz: klassisches journalistisches Handwerkszeug.

Schreiben ist sehr oft ein Er-Schreiben.

Das heißt, dass man erst durch die intensive Beschäftigung mit der Sache an die Sache herankommt. Nicht jeder Kunde/jede Kundin kann seine/ihre Geschichten auf dem goldenen Tablett servieren. Zu wissen, wie man an die Geschichte herankommt, gehört wesentlich mit zum Know-how des Content Marketing-Profis. Unternehmen, Produkte und Marken haben Geschichten und sind voller Geschichten – die Kunst ist es, diese Geschichten zu erkennen, sie freizulegen und zu erzählen.

Sehen, was der Kunde selbst nicht (mehr) sieht

Fazit: Auch, wenn es natürlich Geschichten-ferne Unternehmen, Marken und Menschen gibt, fast immer ist eine Geschichte zu „holen“. Es braucht oft nur einen anderen Blick, den berühmten Schritt zurück oder einen Impuls von außen, um Stoff für gute Geschichten zu entdecken. Auch vermeintlich langweilige Unternehmen können vom Geschichten-Erzählen profitieren. Deshalb: Ran an die Menschen – sie haben immer etwas zu erzählen. Auch, wenn sie es selbst nicht in eloquente Worte fassen.

Foto: john krempl/photocase.com

 ROSWITHA JAUK

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